Die Abendburg (Bruno Wille)
Erscheinungsjahr: 1909
Leseprobe:
Zu zweien Malen bin ich geboren, und beide Male hieß
meine Heimat eine Burg: Magdeburg die eine, Abendburg
die andere. Ward ich zu Magdeburg geboren für das
Zeitliche, so geschah auf der Abendburg meine
Wiedergeburt für das Ewige.
In der Stadt am Elbstrom, am Tage der sommerlichen
Sonnenwende des sechzehnhundert und sechsten Jahres
drang ich aus dunklem Schoße zum Licht, ein Sprößling
des Fleisches mit Odem und Geschrei. Johannes
Martinus Tilesius, vulgo Tielsch, ward ich in der Taufe
benamset, weil ich ja am Johannistage geboren, und weil
überdies mein Vater zu Sankt Johannis Kirche ein
Prädikante war. Sein ehelich Weib, meine gute Mutter,
hieß Barbara Tilesia, und war eine geborene Angern.
Wie mir von den Eltern oft erzählet worden, habe ich
die ersten Monde meines irdischen Aufenthalts schier
Tag und Nacht geweinet, also daß meine Mutter nicht
schlafen gekonnt und zu manchen Malen vor übergroßer
Müdigkeit über dem Tischgebete eingenickt ist. Es
spricht aber ein alter Kirchenlehrer: So ein neugeboren
Kindlein anhaltend weinet, ist es ein Prophet trübseliger
Lebensjahre. Das ist gewißlich bei mir eingetroffen.
Zähle ich nämlich all die Ängste und Plagen, durch die
ich in Junggesellen- und Mannesjahren Spießruten
gelaufen bin, all die Tränen, darinnen ich als in einem
Flusse geschwommen, Tränen über Waffen- und
Hungersnot, Tränen über verloren Gut, entschwundene
Lieb und Treue, Tränen ohnmächtigen Zornes und
enttäuschter Hoffnung, auch Tränen der Reue über
begangene Missetat, Tränen endlich des heißen
Verlangens, aus diesem finstern Tale mich...
Autoreninformationen: Bruno Wille
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